Donnerstag, 10. November 2011

Trüffel ersetzen keinen Fahrschein



Trüffel ersetzen keinen Fahrschein
(Oder: Was Du nicht willst, das man Dir tut...)




Berta Meyer schleppte zufrieden ihre Tüten und Taschen aus der U-Bahn. Drei Wochen waren es noch bis Weihnachten, aber sie hatte schon  alle Geschenke zusammen. Eine Menge Schnäppchen hatte sie gemacht und sogar ihre Lieblingstrüffel mit dem Mandelnougat hatte sie günstiger bekommen. Davon hatte sie sich eine extra große Portion gegönnt.
Sie war stolz auf sich, so eine clevere Schnäppchenjägerin zu sein.
Eine ihrer vielen Tüten hatte sie für sich gekauft. Mit Leckereien gefüllt: Trüffel diverser Art, Hühnerpasteten, Wildschweinbraten, Burgunderschinken und Pralinen von ihrem Lieblingsgeschäft. Sie würde es sich mit den Sachen zuhause gemütlich machen und genießen.
Eine andere Tüte war gefüllt mit Lego für ihren Enkel, eine mit Barbies für die Enkelin und DVDs für den Sohn.
Ihre Schwiegertochter bekam einen Umschlag für Wellness. Davon hielt Berta nichts. Wellness kann man sich auch Zuhause mit leckerem Essen, einem guten Wein und schöner Musik machen. So, wie sie das regelmäßig tat.
Außerdem war dieser kleine Umschlag im Vergleich zu den vielen Geschenken ihrer Meinung nach zu mickrig. Ob sie ihn in einen großen Karton legen, mit Papier umwickeln und eine Schleife drum binden sollte?
Sie schmunzelte, denn sie wusste, dass ihre Schwiegertochter einen Aufstand machen würde, wenn sie damit ankommt. Schließlich wollte sie gar nichts zu Weihnachten haben und wenn, dann lieber einen Wellness Gutschein. Sie hatte ihr ausdrücklich verboten, wieder mit solch pompösen Geschenken zu kommen.
Am schwersten war die Tüte mit den Nüssen und Orangen, den Lebkuchen und Marzipan, den Schokoweihnachtsmännern und Spekulatius.
Als Berta an die Rolltreppen kam, traf sie fast der Schlag. Sie war schon in heller Vorfreude, einen Moment verschnaufen zu können, doch dies zerplatzte gerade wie eine Seifenblase: Die Rolltreppen waren alle wegen eines Defekts außer Betrieb. Schwer bepackt mit ihren Sachen stand sie in der Schlange der Menschenmassen, um die Treppe zu nehmen.
Sie merkte, wie sie zu schwitzen begann und hätte jetzt alles dafür gegeben, eine dünnere Jacke zu tragen, anstatt des dicken Pelzmantels.
Naja, alles, nur ihre geliebten Trüffel nicht.
Langsam bewegte sich die Menge die Stufen hinauf. Berta wurde ungeduldig. Was war das denn für ein Service. Und das noch in der Weihnachtszeit!
Durch die Glasfront der U-Bahn Station sah sie die Lichter der Straßenlaternen leuchten. Trotz des Nachmittags war es draußen dunkel.
Die Halogenstrahler an der Decke tauchten die große Halle in künstliches Licht. Sie verließ die Stufen und ging erschöpft zur Bank an den Fenstern.
Mit einem Schnauben hievte sie ihre Sachen auf die Bank, setzte sich dazwischen und suchte in ihrer Tasche nach einem Tuch.
Während sie zu Atem kam, tupfte sie sich die Stirn vom Schweiß ab.
Die Halle leerte sich kaum und Berta fragte sich, was draußen vor dem Eingang los sein konnte.
Sie schloss sich wieder dem Strom an und hoffte, bald zuhause zu sein. Die Vorfreude auf ihre mitgebrachten Leckereien ließ sie die Strapazen ein wenig mildern.
Endlich wurde die Menschenmenge weniger.
Mit einem Seufzer der Erleichterung, wurde ihr Griff um die Tüten fester und sie ging entschlossen in Richtung Ausgang.
„Halt! Ihren Fahrschein bitte, Frau Meyer!“
Erschrocken stoppte sie und sah dem Mann ins Gesicht, der sich ihr in den Weg gestellt hatte.
Es war ihr Nachbar, Herr Clausen, der bei der Hochbahn arbeitete.
Mist, ausgerechnet ihm musste sie jetzt begegnen.
Gerade gestern hatte sie seine Kinder von ihrem Grundstück auf dem Hinterhof des Wohnhauses gescheucht, weil sie von dort den Schnee für ihren Schneemann holen wollten.
Dabei hatten sie ihr ganzes Blumenbeet zertrampelt, Zweige ihrer kleinen Buchsbäumchen abgeknickt und den Gartenzwerg umgestoßen. Und laut waren sie dabei auch gewesen.
„Böse dicke Tante Berta!“,  hatten sie die Kinder genannt und sie wurde zorniger. Rotzgören hatte sie hinter ihnen her geschrien.
Mit einem Besen war sie auf die Kinder losgegangen und fuchtelte damit wild in der Luft herum. Sie sollten ruhig Angst bekommen, denn dann würden sie sie in Ruhe lassen.
Die Kinder hatten ihrem Vater bestimmt davon erzählt und jetzt stand sie hier vor ihm.
„Äh, wie bitte?“
„Fahrkartenkontrolle, ihren Fahrausweis bitte.“ Herr Clausen blieb höflich.
Völlig perplex stellte Berta ihre Tüten ab und öffnete ihre Handtasche.
Sie zog ihre CC-Karte heraus und reichte sie ihm.
„Es tut mir leid, aber mit dieser Monatskarte dürfen Sie zwischen sechzehn und achtzehn Uhr nicht fahren.“
Sie wollte lospoltern, was ihm eigentlich einfiele, ihr zu unterstellen, sie würde schwarzfahren. Doch dann blickte sie auf die Uhr und sah, dass es bereits fünf nach vier war.
„Aber…“ sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Schamesröte stieg ihr ins Gesicht. Sie fing erneut an zu schwitzen.
„Aber ich drücke nochmal ein Auge zu. Schließlich können sie in ihrem Alter mit so vielen Tüten und dem dicken Mantel nicht mehr so schnell die Treppen laufen. Unter Nachbarn sollte man sich schließlich helfen.“ Er zwinkerte ihr überlegen zu und gab ihr den Fahrschein zurück.
„Danke“, bekam sie zwischen den zusammen gedrückten Zähnen heraus. Sie war über seine Beleidigung zutiefst verärgert, sagte aber nichts, weil sie wusste, dass er in seiner Position am längeren Hebel saß. Sie nahm den Fahrschein und  unter seinem Lächeln ging sie zügig mit ihren Tüten hinaus.