Mittwoch, 14. Dezember 2011

Adventsgestöber und seine Folgen

Eine kleine Geschichte, gestern erlebt und zu Papier gebracht...





Adventsgestöber und seine Folgen

„Mama, hattest Du das Buch schon angesehen?“
Meine Mutter war mit meinen Kindern beschäftigt und bekam meine Frage nicht mit. Die Kinder tobten um sie herum und freuten sich, dass die Oma den Abend auf sie aufpassen würde.
„Mama?“
„Was?“
„Hattest Du das Buch durchgesehen, das ich Dir gegeben hatte?“
Ja, das ist schön geworden. In dem Altersheim, in dem ich arbeite, lesen die jetzt den Leuten jeden Tag eine Geschichte vor.“
„Kannst den gerne sagen, das gibt’s bei Amazon zu kaufen.“
Ein bisschen Werbung machen würde (schließlich) nicht schaden.
„Warum ich Dich frage: Ich hab mir gedacht, wir backen heute zusammen die Ingwerplätzchen nach.“
„Oh, Ingwer! Der ist gesund. Brauchst Du frischen Ingwer? Ich hab noch eine Knolle in der Tasche.“
Sofort durchwühlte meine Mutter ihre für mich scheinbar bodenlose Tasche. Was sie manchmal aus ihrer Tasche zauberte, ließ mich staunen.
Ich blätterte die Seite mit dem Ingwer-Plätzchen Rezept auf und ging die Zutaten durch.
„Nein, hier steht, es wird gemahlener Ingwer gebraucht.“
Fast enttäuscht steckte sie ihre Ingwerknolle zurück in die Tasche. Aber nur, um kurz danach voller Elan neben mir zu stehen und nach den nächsten Zutaten zu fragen.
„Wir brauchen zweihundert Gramm Mehl, hundertfünfundzwanzig Gramm Fett…“
„Da können wir die Smanta nehmen!“ unterbrach mich meine Mutter und griff sofort nach der Flasche.
Das Mehl wog ich ab und sie kippte nach Gefühl die Smanta dazu.
„Was noch?“
„Hundertfünfundzwanzig Gramm Puderzucker und fünfundsiebzig Gramm dunklen Sirup.“
Schnell hatte ich den Puderzucker gefunden. Die Hälfte der Zweihundertfünfzig Gramm Packung war noch da und ich kippte sie zu den vorigen Zutaten.
„Mist, ich hab hellen, Hamburger Sirup.“
„Kannst Du nehmen, kommt aufs Gleiche an.“
Meine Mutter schaute ins Rezept.
„Wo hast Du Backpulver, Nelken und Zimt?“
„Das Backpulver ist hier, Nelken hab ich nicht und der Zimt steht hier bei den Gewürzen. Musst mal schauen, irgendwo da drin.“
Meine Mutter durchwühlte meinen schmalen Schrank, in dem ich meine Gewürze aufbewahre und hielt neben dem Zimt eine kleine Dose Anis hoch.
„Hier, das können wir anstatt der Nelken nehmen.“
Ich war froh, dass ich sie, eine erfahrene Hauswirtschafterin aus einer Großküche, bei mir hatte. Ohne sie hätte ich nur den Zimt und den Ingwer genommen.
„Hast Du den Ingwer reingetan?“
„Nein, den hab ich hier. Moment, ich muss nochmal schauen, wie viel davon rein muss.“
„Halber Teelöffel, hab ich vorhin schon gelesen.“ Mit den Worten nahm sie mir das Pulver aus der Hand und streute nach Augenmaß.
„Alle Zutaten werden zu einem Teig geknetet, der dann zu Rollen geformt wird…“ las ich vor.
„Ich würde da noch Nüsse mit rein machen. Der Teig ist viel zu fettig.“
„Du hattest das Fett reingegeben.“
„Daran liegt es nicht.“
Sie rollte den Teig, ich schnitt die Scheiben ab und legte sie auf das Backblech.
Der Ofen war bereits vorgeheizt und die erste Ladung kam in die Röhre.
Wieder widmete meine Mutter sich den Kindern und ich räumte die Zutaten zurück in die Schränke.
Der Duft der Plätzchen schwebte durch die Wohnung und erfüllte uns mit Weihnachtsstimmung.
„Na, wie sehen die Plätzchen aus?“ rief sie aus dem Wohnzimmer.
Neugierig bücke ich mich und schaute durch die Scheibe.
„Scheiße!“ stieß ich aus und musste gleich darauf anfangen zu lachen.
„Was ist?“
„Die Kekse sind flüssig geworden. Alles eine Masse.“
Meine Mutter öffnete die Klappe und wich der Dampfwolke aus. Es roch nach Spekulatius.
„Die können wir jetzt raus holen, und wenn sie abgekühlt sind, brechen wir das in kleine Stücke.“
Gesagt, getan.
Mutig probierte meine Mutter als erste. Ich beobachtete sie und wartete ihr Urteil ab. Die Augenbrauen schnellten nach oben.
„Hey, das schmeckt wie Krokant. Spekulatius Krokant!“
Sie nahm sich direkt noch mehr.
„Ich weiß nicht, wie die werden sollen, aber so schmecken sie auch.“
Sie schmeckten wirklich, aber ich überlegte dennoch, welche wichtige Zutat ich vergessen haben könnte.
Meine Mutter knabberte weiterhin den Krokant.
Im Kopf ging ich die Zutaten durch und hakte ab, ob ich sie wirklich in die Schüssel gegeben hatte.
War es zu viel Fett? Zu wenig Mehl? Zu enger Abstand? Zu lange oder zu heiß gebacken? Zu viel hauswirtschaftliche Unterstützung?

Als ich meine Mutter abends zum Bahnhof fuhr, meinte sie gedankenverloren: “Vielleicht lag es doch am Anis“.
Für mich steht fest: Die Plätzchen werden nochmal gebacken. Dann strikt nach Anleitung und mit Waage.
Und ohne Hauswirtschafterin.