Montag, 2. Januar 2012

Feddersen bricht aus... 1. Version



Feddersen bricht aus  1. Version

Feddersen lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben. Er lebte nach der Uhr. Jeden Morgen um die gleiche Zeit stand er auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro und verließ es jeden Tag pünktlich um 17:30 Uhr.
So auch an einem Donnerstag im November.
Der Pförtner im Empfang sagte: „Pünktlich wie immer, Herr Feddersen.“
„Stimmt genau“, sagte Feddersen. „Auf  Wiedersehen.“
Er stieg in den Bus der Linie 60 und sprach ein paar Worte mit Busfahrer Otremba, der schon immer diesen Bus fuhr: „Schöner Abend heute.“
„Soll aber noch regnen“, gab Otremba zurück.
Mit einem freundlichen Nicken hielt er seinen Regenschirm hoch.
Als Feddersen sich auf seinen üblichen Platz im Bus setzte, blickte er sich wie jedes Mal im Fahrgastraum  um.
Die gewohnten Gesichter waren zu sehen. Aber diesmal auch eine Gruppe Jugendlicher, die zwei Reihen hinter ihm saßen und sich lautstark unterhielten.
Er konnte das Gespräch der Jungs nicht ausblenden und war gezwungen, ihnen zuzuhören, anstatt sich wie jeden Abend seiner Zeitung zu widmen.
„Hattest Du vorhin den Mann auf der Bank gesehen? Der sah vielleicht aus mit seinem streng gekämmten Haar!“
„Dem hat bestimmt noch keiner gesagt, dass Haare über die Glatze kämmen out ist, “ lachte ein anderer.
Feddersen bemerkte, wie er sich unbewusst über seinen Kopf strich. Schütteres Haar hatte er, aber noch keine Glatze.
„Und dann diese Hose! Bestimmt bügelt der die jedes Mal, bevor er die anzieht.“
Als er jetzt auf seine Hose blickte, sah er die Bügelfalte, die er heute Morgen per Bügeleisen verstärkt hatte.
„Du Matze, ich wette mit Dir, der macht jeden Tag das gleiche. Wahrscheinlich streng nach Zeitplan.“ Alle vier fingen laut zu lachen an.
„Punkt sieben klingelt bestimmt der Wecker, dann wird aufgestanden, sich gewaschen,…“
 „… und die Hose gebügelt!“ Wieder lachten sie.
„Gefrühstückt und zur Arbeit gefahren. Und dann kommt der bestimmt pünktlich auf die Minute an und macht pünktlich auf die Minute Feierabend.“
„Und fährt immer zur gleichen Zeit den Weg nach Hause!“
„Vergiss nicht, wenn er dann zuhause ist, dann gibt’s den Schlafanzug an, Abendbrot und nach den Nachrichten um acht ins Bett!“
„Oh man, was für ne Lusche!“
Die Jungs grölten vor Lachen, während Feddersen die Lippen so fest aufeinander presste, dass sie an Farbe verloren. Er schaute stur nach vorne. Sie hatten ihn bis fast ins kleinste Detail beschrieben, nur dass er um 23 Uhr schlafen ging. Und obwohl er diesen Rhythmus als normal fand, ja sich sogar wohl damit fühlte, verletzte ihn, dass jemand so über ihn dachte.
„Also ganz ehrlich“, sagte einer von ihnen, nachdem er sich vom Lachen erholt hatte, „wenn ich so leben würde, würde ich mir die Kugel geben.“
„Ich auch!“ pflichtete ihm ein anderer bei.
Feddersen ballte die Fäuste auf dem Schoß zusammen. Die Wut in ihm brodelte immer höher, bald würde er überkochen.
„So erlebt man doch gar nichts! Ne also ich will was erleben und später als Partyhengst bekannt sein!“
„Haha, Paul, das biste doch jetzt schon! Ein Partyhengst, der immer besoffen nach Hause geschleppt werden muss.“ Wieder schallendes Gelächter.
„Ja, lieber Partyhengst, als so ein Versager! Die Welt wäre ohne solche Leute doch echt besser dran!“
Das war zu viel, Feddersen hielt es nicht mehr auf seinem Sitz.
„Jetzt reicht’s!“ brüllte er los und sprang auf. Seine Aktentasche umklammerte er dabei so fest, dass seine Fingerknöchel schmerzten.
Voller Wut sah er die vier Jungs an, die in ihrem Gespräch stoppten und ihn erst erschrocken, dann belustigt und neugierig  ansahen.
Eine Ewigkeit schien zu verstreichen.
Während er einem nach dem anderen ins Gesicht sah, schwand die Wut und machte der Unsicherheit Platz. Alle Fahrgäste im Bus hatten ihm den Blick zugewandt. Soviel Aufmerksamkeit hatte er noch nie zuvor erhalten und er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er spürte den Schweiß, der sich auf seiner Stirn bildete.
„Äh, ich meine Stopp bitte! Das war gerade meine Haltestelle.“
Schneller als er konnte, drehte er sich um und hastete stolpernd zur Tür. Auf den fragenden Blick von Busfahrer Otremba stotterte Feddersen: „Ich geh den Rest zu Fuß.“
Der Bus stoppte, die Türen gingen auf und Feddersen fiel fast zur Tür hinaus. Als er dem Bus hinterher blickte, wie dieser in der Dunkelheit verschwand, bekam er den ersten Regentropfen ab.
Otremba hatte wie immer Recht mit seinen Prognosen. Und jetzt merkte Feddersen, dass er in seiner Wut und Eile seinen Regenschirm im Bus vergessen hatte. Bis nach Hause war es noch weit und der Regen wurde stärker.  Sollte er laufen? Zumindest wäre es nicht das Gleiche, wie jeden Tag. Er wäre an der frischen Luft. Er hätte viel Zeit zum Nachdenken, wie er sein so scheinbar langweiliges Leben ändern könnte. Genau jetzt könnte er damit anfangen. Sofort.  Für einen Moment blieb er stehen. Dann drehte er sich um und ging zurück zur letzten Bushaltestelle um auf den Bus nach Hause zu warten.

1 Kommentar: